Südafrika hat gewählt. 20 Jahre nach dem Ende der Apartheid steht das Land vor enormen Herausforderungen. Die Erben von Nelson Mandela im ANC müssen gegen Korruption, Kriminalität und ungleiche Verteilung vorgehen.
Lange galt der CBD, der Central Business District Johannesburgs, als „No-Go Zone“. Kriminalität und Gewalt bestimmen den Ruf des Stadtzentrums, das ein wenig an die rauen Bezirke New Yorks erinnert. Einst das wirtschaftliche Zentrum der Stadt, zogen viele Unternehmen in den 1980er und 1990er Jahren weg. Das verwaiste Viertel zog Armut und Kriminalität an. Tagelöhner, Drogendealer, Obdachlose und Kleinhändler – Männer und Frauen – prägten das Bild. Auch wenn sich die Situation seit Ende der 1990er wieder verbessert hat – der CBD hat nach wie vor einen schlechten Ruf.
Maboneng, nur ein paar Straßen weiter, ist anders. Maboneng bedeutet auf Suthu – einer der elf Amtssprachen – „Ort des Lichts“. Es ist ein Gentrifizierungsprojekt, initiiert von Entrepreneur Jonathan Liebmann. Es sind nur wenige Blocks, alte Industriegebäude, die zur Heimat der Hippen und Kreativen geworden sind.
An der Ecke Fox Street und Kruger Street sitzen modebewusste MittzwanzigerInnen, schlürfen Caffè Latte zu ihren Bagels mit Räucherforelle. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite gibt es Smoothies, Ciabattas und ein äthio-pisches Lokal. Neben Apartments im Loft-Stil mieten sich zumeist Freischaffende im Kreativbereich in Großraumbüros ein. Es ist ein bunter Mix von Südafrikanerinnen und Südafrikanern und Internationalen – in beiden Fällen schwarz und weiß.
„Die jungen Leute haben nicht so negative Konnotationen zum Stadtzentrum wie die über 35-Jährigen“, sagt Liebmann. „Mit ihnen muss die Veränderung beginnen.“ Und das rege Treiben an einem Sonntagnachmittag unter blauem Himmel scheint ihm auf den ersten Blick Recht zu geben.
Doch es gibt Kritik an Maboneng. Nicht nur, dass Liebmanns Insel der Hippen mitten im spröden Zentrum der Stadt liegt und es auch in den direkt angrenzenden Straßen regelmäßig zu Schießereien kommt. Menschen, die früher in der Gegend lebten, sind hier nicht mehr gefragt: Sie wurden verdrängt und fühlen sich ausgegrenzt vom urbanen Entwicklungsprojekt. Anrainerinnen und Anrainer, die in der Nähe wohnen, erzählen, dass ihnen im Zuge der Veränderungen Arbeit versprochen wurde. Doch sie würden sich weiterhin ohne feste Jobs durch den Alltag kämpfen. Großfamilien leben zusammengepfercht in kleinen, spärlich möblierten Räumen.
Maboneng mit seiner Umgebung ist ein Beispiel für den Kontrast von Arm und Reich, der sich durch ganz Südafrika zieht. Der Gini-Koeffizient, ein Maß der Ungleichverteilungen des Einkommens, liegt heute bei über 0,63 (der Wert Eins bedeutet maximale Ungleichverteilung; Anm. d. Red.). Südafrika gehört damit zu den Ländern mit der stärksten Ungleichverteilung weltweit. Wenige haben viel, die meisten haben nichts. Und die Kluft wird größer. Der Afrikanische Nationalkongress (ANC) ging zwar bei den Parlamentswahlen im Mai als klarer Sieger hervor. Doch die Partei des Präsidenten Jacob Zuma steht vor großen Herausforderungen. Zwischen 1996 und 2008 wuchs die südafrikanische Wirtschaft mit einem jährlichen Durchschnitt von 3,2 Prozent. Vergangenes Jahr ging das Wachstum auf 1,9 Prozent zurück – im Vergleich mit anderen Schwellenländern ein sehr niedriger Wert. Südafrika habe seine Stellung als wirtschaftliches „Wunder“ Afrikas verloren, sind sich die meisten Expertinnen und Experten einig. Jetzt sei es eben nur ein weiteres afrikanischen Land, das versucht, einen abklingenden Wirtschaftsboom und eine schwierige Vergangenheit aufzuarbeiten.
Inzwischen hat Nigerias Wirtschaft jene von Südafrika überholt. Auf der internationalen Ebene bleibt Südafrika dennoch politisch der wichtigere Akteur.
Neben Landwirtschaft und dem produzierenden Sektor ist der Bergbau die dritte Säule der südafrikanischen Wirtschaft. Das Land am Kap ist der weltweit größte Produzent von Platin, Gold und Chrom.
Im August 2012 gingen Arbeiter der Lonmin Platin-Mine in Marikana auf die Straße und forderten höhere Löhne. Am 16. August wurden 34 Minenarbeiter von Polizeieinsatzkräften erschossen. John Ledingoane war einer davon. „Wir haben lange nach ihm gesucht, nachdem sich die Nachricht über den Vorfall verbreitete“, erzählt seine Tante Martha Masila im Minenort Wonderkop, unweit von Marikana. „Wir dachten, er sei verhaftet worden.“ Der damals 24-Jährige wurde von einer Kugel in die linke Schulter getroffen. Seine Leiche kam später als die anderen. Vielleicht ist er im Krankenhaus verblutet, mutmaßt Masila. Seit bald zwei Jahren arbeitet eine Untersuchungskommis-sion an dem Fall. Ergebnisse gibt es noch keine. „Wir sind sehr unglücklich über den Fortgang“, sagt Ledingoanes Cousin David Masila.
Es war der schlimmste Fall von Polizeigewalt seit 1960 und löste einen Aufschrei unter der Bevölkerung aus. „Wonderkop ist nicht mehr was es war“, betont Martha Masila. Die siebenfache Mutter kritisiert die Politik. Zu viele leere Versprechen würden gemacht. „Es ist, wie wenn man unreife Tomaten verkauft.“ Natürlich sei sie 1994 zur Wahl gegangen, habe ihre Stimme Nelson Mandela und dem ANC gegeben. Doch heute finde sie es reine Zeitverschwendung, wählen zu gehen. „Ich wähle jemanden, der mir einen Job gibt“, so Martha Masila. An den ANC glaube sie nicht mehr.
„Im Moment habe ich keine Lust zu wählen“, sagt auch ihr Sohn David Masila. „Ich bin immer noch wütend über das, was 2012 geschehen ist.“ David Masila arbeitet in der Lonmin Mine. Rund 6.400 Rand, etwa 450 Euro, verdient er im Monat. Und muss damit 15 Verwandte versorgen. Darunter auch die Geschwister des verstorbenen John Ledingoane, die alle noch in der Schule sind. Denn die Eltern sind ebenfalls nicht mehr am Leben.
Dass die Lonmin Arbeiter seit Januar erneut wegen Lohnforderungen streiken, macht David Masilas Lage nicht einfacher. Gestreikt wird aus demselben Grund wie damals: Die Bergarbeiter fordern höhere Löhne.
Die Menschen in Wonderkop und Marikana haben unterschiedliche Ansichten darüber, wer die Schuld an dem Massaker trägt. Das lokale Büro des ANC wurde zwei Wochen vor der Wahl niedergebrannt. Auf Hauswänden waren Anti-ANC-Parolen zu lesen. Martha Masila meint, es wäre die Verantwortung der Regierungspartei, also des ANC, gewesen, die Konflikte zwischen Bergarbeitern und Unternehmen rechtzeitig zu schlichten.
Doch viele nehmen die Polizei, getrennt von der Regierung, in die Verantwortung. Bei den diesjährigen Wahlen verlor der ANC in Marikana mehr als 20 Prozent gegenüber dem Ergebnis 2009. Ein herber Verlust. Auf der anderen Seite geben immer noch 67 Prozent der Minenarbeiter-Wählerschaft und deren Angehörige ihre Stimmen dem ANC.
62 Prozent – wie 1994
Bei den Parlamentswahlen im Mai errang der Afrikanische Nationalkongress (ANC) den erwarteten, deutlichen Sieg: Rund 62 Prozent der Wählerinnen und Wähler (ein Minus von drei Prozentpunkten gegenüber 2009) entschieden sich für die Partei von Präsident Jacob Zuma. Die oppositionelle Demokratische Allianz (DA) kam auf rund 22 Prozent (plus sechs Prozent), die neue, linksradikale Partei „Kämpfer für wirtschaftliche Freiheit“ (EFF) von Julius -Malema errang rund sechs Prozent.
Der ANC, lange von Nelson Mandela geprägt, wurde 1912 gegründet. Jahrzehntelang kämpfte er im Untergrund gegen das Apartheidregime. Die ersten freien Wahlen 1994 gewann der ANC, mit rund 62 Prozent. sol
In der Nordwest-Provinz, zu der Marikana gehört, schaffte es die EFF, die Economic Freedom Fighters von Julius Malema, mit 13 Prozent auf den zweiten Platz, knapp vor der Demokratischen Allianz. Landesweit kam die EFF auf 6,3 Prozent.
Malema, ehemaliger Anführer der ANC-Jugend und Heißsporn bis zum Parteiausschluss, gründete 2013 seine eigene Partei, die EFF. Deren Inhalte sind radikaler und vor allem lauter als die anderen. Malema erklärt Simbabwes Robert Mugabe öffentlich zu seinem Idol. Er möchte Landreformen und mehr wirtschaftliche Freiheiten und Rechte für den schwarzen Teil der Bevölkerung. Seine harsche Kritik gegenüber einem lethargischen ANC spricht die Jungen an. Und bietet eine Alternative zur DA, die immer noch den Ruf hat, „weiß“ zu sein.
Auf der einen Seite gewinnt der ANC die Wahlen, auf der anderen Seite scheint es trotzdem viel Unmut im Land zu geben. „Es brodelt schon lange“, meint Mzukisi Qobo, politischer Analyst an der Universität von Pretoria (siehe auch Interview S.15). „Wir werden in naher Zukunft noch mehr Spannungen im industriellen Sektor sehen. Das ist erst die Spitze des Eisbergs der Unzufriedenheit im Bergbau.“
Dass Malema von nun an im Parlament ist, werde nicht viel ändern. „Im Vorfeld der Wahlen wurde zu viel Wind um ihn gemacht. Denn das Parlament ist ein Witz für die südafrikanische Demokratie, solange es so stark von einer Partei dominiert wird“, so Qobo.
Laut einer Umfrage glaubt ein Viertel der Bevölkerung, dass Korruption das größte Problem Südafrikas sei. Um die Jahrtausendwende waren es lediglich 13 Prozent. Es wird geschätzt, dass mehr als 36 Milliarden Euro jährlich durch Schmiergeldzahlungen und andere kriminelle Transaktionen verloren gehen.
Hector Pieterson war zwölf Jahre alt, als er 1976 beim Schüleraufstand in Soweto von Sicherheitskräften erschossen wurde. Im Hector Pieterson Museum in Soweto, den South Western Townships bei Johannesburg, tummeln sich Schülerinnen und Schüler. Dass ein Großteil Südafrikas geographisch nach wie vor nach Hautfarben geordnet ist, spiegelt sich auch in den meisten Schulklassen. Unter den Schülern der Geschichtsklasse des Sheikh Anta Diop College in Soweto ist eine heftige Politikdebatte entbrannt. Erst wenige Minuten zuvor hatte sich der Lehrer der Klasse über das Desinteresse der 16- und 17-Jährigen an der Geschichte des Landes beschwert. Nun staunt er über die leidenschaftliche Diskussion der Teenager.
Die 17-jährige Buhle Ndhlovu unterstützt die DA und erntet dafür lautstarken Widerstand ihrer Mitschülerinnen und Mitschüler. Ein paar SchülerInnen stärken Malema den Rücken. Der Großteil zeigt – wohl ihren Eltern gleich – ihre Loyalität zum ANC.
Doch Buhle nimmt der Regierungspartei ihre Versprechen nicht mehr ab. Es sei Zeit für Veränderung. Es sei Zeit, von der Vergangenheit abzulassen und nach vorne zu blicken. Keine Frage, der Blick in die Vergangenheit im Hector Pieterson Museum habe sie sehr berührt: „Es macht mich wütend zu sehen, was die Weißen unseren Vorfahren angetan haben“, sagt sie. Doch nun müsse man vergeben und jenen Menschen die Autorität geben, die im Sinne Südafrikas walten wollen. Buhle will selbst initiativ werden und später einmal als Anwältin arbeiten: „Ich will für mehr Gerechtigkeit und gegen die hohe Kriminalitätsrate kämpfen!“
Anna Mayumi Kerber lebt als freie Journalistin in Kenia. Für die Wahl 2014 reiste sie nach Südafrika, wo sie früher mehrere Jahre gelebt hat.
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